Zwischen Reiz und Reaktion
Es ist fast ein wenig bitter. Viktor Frankls wohl berühmtestes Zitat ist gar keines. Zumindest nicht von Frankl.
Reiz & Reaktion - und der Raum dazwischen
Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum. In diesem Raum liegt unsere Macht zur Wahl unserer Reaktion. In unserer Reaktion liegen unsere Entwicklung und unsere Freiheit.
Dieses Zitat wird regelmäßig Frankl zugeschrieben, ist so aber nicht belegt. Statt aber skeptisch zu werden, zitieren zu viele munter weiter. Ein Versuch der Klarstellung.
Stephen Covey, der 2012 verstorbene US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftler und bekannte Autor, klärt in dem von ihm verfassten Vorwort zu Pattakos (2004), welches auch für die dritte überarbeitete und unter Co-Autorenschaft von Elaine Dundon verfasste Ausgabe von Prisoners of Our Thought (Pattakos & Dundon (2017) beibehalten wurde, klar über den Irrtum auf:
While on a writing sabbatical in Hawaii and in a very reflective state of mind, I was wandering through the stacks of a university library and picked up a book. I read the following three lines, which literally staggered me and again reaffirmed Frankl's essential teachings:
Between stimulus and response, there is a space.
In that space lies our freedom and our power to choose our response.
In our response lies our growth and our happiness.I did not note the name of the author, so I've never been able to give proper attribution. On a later trip to Hawaii I even went back to the source and found the library building itself was no longer present.
The space between what happens to us and our response, our freedom to choose the response and the impact it can have upon our lives, beautifully illustrate that we can become a product our our decisions, not our conditions. They [? unklare Deixis, SR] illustrate the three values that Frankl continually taught: the creative value, the experiential value, and the attitudinal value. We have the power to choose our response to our circumstances. We have the power to shape our circumstances; indeed, we have the responsibility, the essence of our life and our legacy could be frustrated.
(Pattakos 2017: x-xi)
In deutscher (leider nicht wirklich gelungener) Übersetzung in der 2. Auflage (2012) erschienen bei Linde International, übersetzt von Brigitte Döbert, liest sich dies wie folgt:
Einmal verbrachte ich ein Sabbatjahr auf Hawaii und wanderte in sehr nachdenklicher Stimmung durch die Regalreihen der Universitätsbibliothek. Ich zog ein Buch heraus und las darin die folgenden Zeilen, die mich buchstäblich erschütterten und Frankls zentrale Lehren ebenfalls bestätigen:
"Zwischen Reiz und Reaktion ist Raum.
In diesem Raum liegt unsere Freiheit, weil er es uns ermöglicht,
uns für eine Reaktion zu entscheiden.
Durch unsere Reaktion können wir reifer werden und haben
Einfluss auf unser Glück."Leider habe ich mir den Namen des Autors nicht notiert, und so kann ich diese Zeilen nicht korrekt zitieren. Als ich später erneut nach Hawaii kam und das Buch suchen wollte, gab es das Bibliotheksgebäude nicht mehr.
Der Raum zwischen Ereignis und Reaktion, die Freiheit, bewusst zu reagieren, und der Einfluss, den unsere Wahl auf unser Leben haben kann, all das bedeutet, dass wir eher von unseren Entscheidungen als von den Umweltbedingungen abhängen, und beschreibt die drei Wertkategorien, die Frankl unermüdlich gelehrt hat: schöpferische Werte, Erlebniswerte und Einstellungswerte. Es steht in unserer Macht, unsere Reaktion auf die Umstände zu wählen. Es steht in unserer Macht, den Umständen unseren Stempel aufzudrücken. Wir haben die Verantwortung, und wenn wir diesen Raum, diese Freiheit, diese Verantwortung ignorieren, verfehlen wir wahrscheinlich das Wesentliche unseres Lebens und unseren Anteil daran.
(Pattakos 2017: x-xi; Übersetzung: Brigitte Döbert)
Nicht ganz glücklich über die doch etwas vom originalen Text entfernte Übersetzung im Folgenden unsere eigene:
Als ich mich während eines Sabbatjahrs auf Hawaii aufhielt und währenddessen in sehr geistigen, reflektierenden Gefilden unterwegs war, wanderte ich durch die Magazine einer dortigen Universitätsbibliothek und griff intuitiv nach einem Buch. Ich las die folgenden drei Zeilen, die mir regelrecht den Atem verschlugen und wieder einmal Frankls zentrale Lehre bestätigten:
Zwischen Reiz und Reaktion gibt es einen Raum.
In diesem Raum liegt unsere Freiheit und unsere Kraft für die Wahl unserer Reaktion.
In unserer Reaktion liegt unser Wachstum und unser Glück.Den Namen des Autors hatte ich mir nicht notiert und so war ich seitdem nicht in der Lage, die Autorschaft gebührend zu würdigen. Während eines späteren Besuchs auf Hawaii versuchte ich sogar, die Quelle noch ausfindig zu machen, fand aber nicht mal mehr das Bibliotheksgebäude vor.
Der Raum zwischen dem, was uns widerfährt und unserer Reaktion, unserer Antwort darauf, unserer Freiheit, zu wählen, wie unsere Antwort darauf ausfallen soll und welchen Einfluss dies auf unser Leben haben kann, all das illustriert ganz wunderbar, dass wir das Produkt unserer Entscheidungen werden können und nicht das Produkt bleiben müssen der Umstände, die wir antreffen. Dies illustriert die drei Wertkategorien, die Frankl stets lehrte: die schöpferischen Werte, die Erlebniswerte und die Einstellungswerte. Wir haben die Kraft, unsere Reaktion auf die Umstände, die wir antreffen, frei zu wählen. Wir haben die Kraft, die Umstände, die wir antreffen, zu gestalten; ja, wir haben sogar die Verantwortung, denn die Essenz unseres Lebens und unseres Vermächtnisses könnten zunichte gemacht werden ansonsten.
(Pattakos 2017: x-xi; Übersetzung: Sabine Rettinger)
Die Grundgedanken des Zitats entsprechen damit der Perspektive von Viktor Frankls Ansatz der Logotherapie und Existenzanalyse. Die Zeilen stammen aber nicht von ihm. Es handelt sich um ein klassisches fehlzugeschriebenes Zitat, von denen leider nicht nur online zahlreiche kursieren. Es scheint leider zudem eine Schwäche der logotherapeutischen Publikations- und Lehrlandschaft zu sein, dass unsauberes bis unterlassenes Zitieren und Belegen von Quellen nicht mit der Unerhörtheit behandelt werden, wie es dem akademisch-wissenschaftlichen Standard entspräche.
Das Zitat stammt also nicht von Viktor Frankl und Stephen Covey gelang es zu Lebzeiten nicht mehr, die scheinbar der Fehlzitierung zu Grunde liegende Publikation ausfindig zu machen. Von wem aber stammen die Zeilen?
Reiz, Reaktion und Rūmī?
In den Weiten den Internets finden sich Zeilen, die Rūmī zugeschrieben werden, dem bekannten persischen Dichter des Mittelalters. Obgleich auch diese Quelle nicht eindeutig belegt scheint, finden sich zumindest vereinzelt Verweise auf Rūmīs Werk.
Zwischen Reiz und Reaktion gibt es einen Raum: Nur dort kann Begegnung stattfinden.
Zwischen Reiz und Reaktion gibt es einen Raum: Nur dort findet Heilung und Entwicklung statt. Zwischen Richtig und Falsch gibt es einen Ort.
Dort werden wir uns begegnen.(Rūmī, persischer Mystiker, 13. Jhd.)
Ein Verweis hierauf findet sich auch in Rettinger (2020: 210f.):
Es ist in letzter Instanz unsere Entscheidung, wie wir auf eine gegebene Situation reagieren. In der Erfahrung des pathischen Widerfahrnisses können wir unsere Reaktion wählen – je weiter wir zuvor unseren ‚Horizont’ erweitert haben, desto größer ist unser Repertoire, aus dem wir dann unsere Antwort wählen können. Dabei ist es wichtig, den beschriebenen Mechanismus nicht als Automatismus misszuverstehen. Der Neurologe und Philosoph Viktor Frankl betonte auf der Grundlage seines existenzphilosophisch fundierten Menschenbildes die Freiheit des Menschen, seine Haltung und Reaktion auf von außen Gegebenes zu wählen.
Bereits im 13. Jahrhundert findet sich bei einem der bedeutendsten persischsprachigen Dichter des Mittelalters, Dschalāl ad-Dīn Muhammad Rūmī, ein ähnlicher Gedanke:
Zwischen Reiz und Reaktion gibt es einen Raum: Nur dort kann Begegnung stattfinden.
Zwischen Reiz und Reaktion gibt es einen Raum: Nur dort findet Heilung und Entwicklung statt.
Zwischen Richtig und Falsch gibt es einen Ort.
Dort werden wir uns begegnen.(Rūmī, persischer Mystiker, 13. Jhd.)
Wunderbare Zeilen – und wie die von Covey notierten Zeilen so wunderbar zum Ansatz der Logotherapie und Existenzanalyse Viktor Frankls passend, dass sie fasst von Frankl selbst sein könnten. Aber eben nur könnten. Ob es sich bei den letzten Zeilen nun wirklich um Gedanken Rūmīs handelt, müssen Expert*innen aus diesem Gebiet klären.
Reiz, Reaktion und Rätsel (Update 2025)
Auch bei den Rūmī zugeschriebenen Zeilen scheint es sich um ein weiteres Fehlzitat zu handeln, das so nicht einwandfrei einer Stelle in Rūmīs Gesamtwerk zuordbar ist. Während die ersten vier Zeilen keinem Werk Rūmīs zu entstammen scheinen, lassen sich die letzten beiden Zeilen wohl zumindest sinngemäß bei Rūmī wiederfinden. Die am ehesten damit in Verbindung bringbare Stelle führt zu einem beliebten und daher ebenfalls häufig zitierten Gedanken Rūmīs (wiedergegeben in einer häufig zitierten populärwissenschaftliche Übersetzung, die sich in den Sozialen Medien weiter Verbreitung erfreut):
Out beyond ideas of wrongdoing and rightdoing, there is a field.
I’ll meet you there.
Eine sehr freie Übertragung der Originalzeilen Rūmīs. Die Übersetzung von Rūmīs Zeilen durch populärwissenschaftliche Autor*innen werden in Forschung und Medienkritik häufig diskutiert. Etwas näher heran schafft es die Folgende:
Jenseits von Unrecht und Recht liegt eine weite Steppe.
Uns zieht die Sehnsucht mitten in diesen Raum.
(Fundstelle in Rūmīs Werk: Masnavi (auch Mathnawi-ye Ma’nawi genannt), Buch I, etwa Vers 119–120, je nach Übersetzung etwas variierend.)
Literatur:
- Pattakos, Alex und Elaine Dundon (32017): Prisoners of Our Thought. Berrett-Koehler Publishers.
- Pattakos, Alex (2012): Gefangene unserer Gedanken. In Übersetzung von Brigitte Döbert. Linde International.
- Rettinger, Sabine (2020): „Empathie und Interkulturalität". In: Katharina Jacob, Klaus-Peter Konerding und Wolf-Andreas Liebert (Hg.): Sprache und Empathie. Beiträge zur Grundlegung eines linguistischen Forschungsprogramms. Reihe: Sprache und Wissen (SuW), 42, S. 175-216. De Gruyter. DOI: https://doi.org/10.1515/9783110679618-008
- Rumi, Dschelaladdin (2008): Von Allem und vom Einen. Im Original: Fihi ma fihi. Übersetzt aus dem Persischen und Arabischen von Annemarie Schimmel. München: Eugen Diederichs Verlag.
- Rumi, Jalaloddin (2020): The Masnavi of Rumi, Book One. A New English Translation with Explanatory Notes. Übersetzt von Alan Williams. I.B. Tauris, 2020.